Ab sofort zur Veröffentlichung frei - 24.05.2004
Autor: Nico Wingert [Storyservice der Stadt Halle (Saale)]
Pflanzen und Pilze verfügen über wirksame und raffinierte Abwehrmechanismen gegen Feinde, die der angeborenen Immunantwort bei Tieren ähnlich sind. Hallesche Wissenschaftler entdeckten jetzt in Pilzen einen Wirkstoff, der gegen die Antibiotika-resistenten Bakterienstämme in den OP-Sälen der Krankenhäuser wirksam eingesetzt werden könnte. Damit bewiesen die Forscher wieder einmal mehr ihre internationalen Leistungen.
Von Pilzen ist allgemein bekannt, dass sie von Parasiten befallen oder von Schnecken angefressen werden. Doch warum ausgerechnet die mit einer Schleimschicht überzogenen (nicht essbaren) "Schnecklinge" von Parasiten und Schnecken verschont bleiben, beschäftigte Biologen schon immer. Darüber dachte auch der Biologiestudent Norbert Arnold während seines Studiums in Regensburg nach. "Doch mehr so nebenbei", wie er augenzwinkernd zugibt. "Die Prioritäten waren zunächst andere, zuerst Diplom und 1992 die Promotion zur Gattungscharakteristik von Pilzen." Nach sechs Jahren erfolgreicher Arbeit in München - zuletzt nur noch mit Verwaltungstätigkeiten betraut - hatte Arnold nur noch einen Wunsch: "endlich wieder zu forschen". Denn der Gedanke, warum insbesondere diese Gattung nie oder nur selten von Parasiten befallen wird, ließ ihn einfach nicht mehr los. In der Saalestadt Halle sollte einer seiner Träume wirklich werden: "Hier haben wir ideale Forschungsbedingungen, tolle Labore - besser als an vielen universitären und außeruniversitären Instituten in Deutschland", schwärmt Norbert Arnold (44) über den Campus am Weinbergweg. Im September 2000 folgte der Biologe dem Ruf des renommierten Chemieprofessors Dr. Ludger Wessjohann (44) an das Leibniz- Institut für Pflanzenbiochemie, den das Institut in einer gemeinsamen Berufung mit der halleschen Alma mater aus Amsterdam gewinnen konnte.
Denn das Credo und die Forschungsziele von Prof. Wessjohann passten perfekt zu den Vorstellungen von Arnold: Wie regeln die Pflanzen und Pilze mit ihren Inhaltsstoffen die Abwehr von Parasiten und Krankheitserreger - und welche von diesen Wirkstoffen sind für den Menschen nutzbar? Um von der Natur zu lernen, robbt Wessjohann schon mal durch die Urwälder Vietnams und Brasiliens.
"Aber", so Wessjohann, "es ist ein weitverbreiterter Irrtum zu glauben, nur pflanzliche Stoffe könnten den Menschen helfen, Pflanzen kümmern sich nicht um den Menschen...". Dennoch verfügen Pflanzen über wirksame Abwehrmechanismen, die man durchaus mit der angeborenen Immunantwort bei Säugern vergleichen kann. Resistente Pflanzen wehren sich erfolgreich gegen Schädlinge und Parasiten. Mögliche "Eindringlinge" kommen mit den pflanzlichen Rezeptoren in Kontakt. Diese "melden" das Signal "Achtung Feind" in das Innere ihrer Zellen weiter und der Angreifer gerät in das "Kreuzfeuer" der unterschiedlichsten pflanzlichen Abwehrreaktionen: Mit der Produktion von Antibiotika und hochreaktiven Sauerstoffverbindungen versucht beispielsweise eine Pflanze, den Eindringling abzuwehren oder in Schach zu halten.
Genau dafür interessierte sich auch der Spezialist für Pilzinhaltsstoffe Norbert Arnold: "Wenn die Pilze der Gattung Schnecklinge (Hygrophorus), Bakterien, Schnecken und Parasiten abwehren können, müsste man nur noch die chemische Grundlage dafür finden können - um dieses Naturrezept "nachzubauen". Arnold dachte dabei auch an die Erfolgsstory des Aspirin: Hatten nicht die alten Germanen schon Tee aus Weidenrinde gekocht, der zur Linderung von Schmerzen führte? Dieses Gebräu aus der Weidenrinde enthielt die Verbindung von Salicylsäure, die allerdings sehr übel schmeckt. Erst die synthetisierte Acyl-Salicylsäure führte zu dem bekannten Welterfolg "Aspirin", das Bayer 1904 auf den Markt brachte... Ob so was ähnliches auch mit den Pilzen der Gattung der Schnecklinge möglich wäre? Zusammen mit dem Doktoranden Tilo Lübken machte sich Arnold auf die Suche nach diesen Pilzen - um diese im Labor genauer analysieren zu können. Im Stadtwald "Dölauer Heide" wurden sie zwar nicht fündig, dafür um so mehr im Harz. "In dem traumhaft naturbelassenen Wald sammelten wir in einer Exkursion über 10 kg der Pilze". Nach Gefriertrocknung und den ersten Untersuchungen bestätigte sich auch im Labor der Anfangsverdacht: Ja, die Pilze verfügen über Eigenschaften, die den Befall durch parasitische Pilze verhindern. Die Wissenschaftler nennen diese Eigenschaft fungizid.
"Aber erst jetzt beginnt die eigentliche Forscherarbeit" erzählt Norbert Arnold begeistert. Denn die Struktur und die chemische Formel zu finden, gleicht einer kriminalistischen Kleinarbeit. Am Leibniz-Institut bestimmten die Wissenschaftler mit Hightech Laborgeräten - wie dem Kernresonanzspektrometer und dem Massenspektrometer - die Anzahl der Wasserstoffatome und Kohlenstoffatome. Aus diesen Informationen konnten die halleschen Forscher bereits nach kurzer Zeit die chemische Formel ermitteln. Voller Stolz zeigt Dr. Arnold das Schreiben an das Patentamt - es ist erst wenige Monate alt...
Derzeit versuchen die halleschen Forscher die Formel synthetisch "nachzubauen" und dabei auch zu "verbessern", wie sie selbst diesen komplizierten Prozess beschreiben. Erste Tests der Substanz in der mittelständischen Pharmaindustrie ergaben bereits positive Effekte: Die bekannten Eitererreger konnten sich in den Test-Versuchen nicht ausbreiten. Daraus ergibt sich sofort ein ganz wichtiger möglicher Anwendungsbereich: Die OP-Säle der Krankenhäuser kämpfen seit Jahren einen aussichtslosen Kampf gegen Bakterienstämme, weil sich diese Bakterien gegen die Antibiotika immer wieder durchsetzen, indem sie durch Mutationen resistenter werden. Die Folge: Die Krankenhäuser müssen dadurch ständig neue Antibiotika einsetzen. Eines dieser neuen Antibiotika könnte der Wirkstoff aus Schnecklingen sein. Weitere Einsatzmöglichkeiten dieser Substanz werden derzeit getestet. Ehe es zu Verträglichkeitsstudien mit Tieren oder Menschen kommt, können Jahre vergehen. Bis zur Produktionsreife eines wirksamen Mittels entstehen so schnell Kosten von 500 - 800 Millionen Euro. Doch dann brüten die halleschen Grundlagenforscher längst über neue Formeln von Wirkstoffen nach - und werden wieder ihrer Zeit voraus sein. Halle hat sich zu einem El Paradiso für Biologen entwickelt, "hier stimmen einfach alle Bedingungen optimal, die Verknüpfung von Wissenschaft und Technologie, Universität und Institut - es herrschen traumhafte Arbeitsbedingungen", schwärmt abschließend Professor Ludger Wessjohann.